Kinder brauchen mehr als Wissen

"Über Resilienz, Persönlichkeitsbildung und Freiheit"

Interview des RKW Magazins mit Ulrike Molter-Nawrath von Julia Niles, Chefredakteurin des RKW Magazins

(v. li.) Ulrike Molter-Nawrath, Pädagogische Direktorin, und Julia Niles, Chefredakteurin des RKW Magazins

Digitalisierung und Globalisierung verändern unsere Berufswelt schon heute in rasender Geschwindigkeit. Doch wie wird die Berufswelt eines Kindes aussehen, welches in diesem Jahr eingeschult wird und in 9 bis 13 Jahren den Arbeitsmarkt betritt? Ganz zu schweigen, von Kindern, die in 13 Jahren erst das Licht der Welt erblicken. Ganz klar: Wir wissen es nicht! Wir können es lediglich erahnen. Aber wie bereiten wir als Eltern, Schule und letztlich auch als Gesellschaft unsere Kinder bestmöglich auf diese unbekannte berufliche Zukunft vor?
Zu diesem Thema hat Julia Niles, Chefredakteurin des RKW Magazins, mit unserer pädagogischen Direktorin Ulrike Molter-Nawrath gesprochen.

Frau Molter-Nawrath, wir haben noch kein klares Bild der Berufswelt heutiger Grundschulkinder. Welche Schlüsselqualifikationen sollten sich Kinder Ihrer Meinung nach aneignen, um in der ungewissen Berufswelt von morgen zurecht zu kommen?

Das Wichtigste ist, dass ich mit mir selbst in der Welt zurechtkomme. Dazu gehört vieles, aber nicht unbedingt nur pures Wissen. Ein Thema, welches uns im Moment sehr beschäftigt, ist das der Resilienz. Wir merken bei vielen jungen Erwachsenen, wie wichtig es ist, flexibel reagieren zu können. Also auf seine sozialen und psychischen Ressourcen zuzugreifen und Krisen als Chancen der Entwicklung zu sehen und zu nutzen.

Damit eng verbunden sind eine angemessene Selbsteinschätzung und das Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen. Und in diesem Zusammenhang wiederum steht, die Heterogenität der Menschen als Schatz anzusehen, welchen ich nutzen kann, um im Team mit anderen gut und erfolgreich leben und arbeiten zu können. Letztlich geht es darum eine Persönlichkeit zu entwickeln, die sich in einer sich ständig veränderten Welt einbringen kann.

Es wird immer weniger darum gehen, Befehle des Vorgesetzten anzunehmen und auszuführen, sondern es geht um selbstständiges, vernetztes und kreatives Denken und darum sich auf Neues, Unbekanntes einzulassen und Veränderungen positiv anzunehmen.

Im New-Work-Jargon würde man in diesem Zusammenhang das Wort Agilität nutzen. Welche Rolle spielt diese Fähigkeit in Ihren Augen?

Ja, agil und anpassungsfähig zu sein ist enorm wichtig. Was aber in keinem Fall bedeutet, sein Fähnchen nach dem Wind zu stellen. Gerade in diesem Kontext ist es entscheidend, einen festen Standpunkt zu haben, von dem aus man die Dinge einschätzen und bewerten kann, um dann sein Handeln danach auszurichten. Dafür wiederum braucht man die, eben schon erwähnte, Gesamtpersönlichkeit als Ausgangspunkt.

Agilität beinhaltet aber eben auch lebenslanges Lernen und die Bereitschaft, sich selbst weiterzuentwickeln und zu verändern. Denn klar ist, dass jetzige Schulkinder nicht einen Beruf erlernen, ihn ergreifen und dann bis zur Rente ausüben. Das steht ziemlich fest.

Wie erlangen Kinder diese Schlüsselqualifikationen bei Ihnen am Zentrum?

Die Montessori-Pädagogik beinhaltet ja in erster Linie, dass sich die Kinder als Subjekte im Lernen begreifen und nicht als Objekte. Sie gestalten ihr Lernen selbst. Lernen als Prozess ist uns sehr wichtig und den Spaß am Lernen zu wecken und zu erhalten. Mit dem digitalen Zeitalter geht es immer weniger um das Wissen selbst, sondern um das „Wie lerne ich?“. Denn wir wissen eben nicht, was wir Kinder in 15, 20, 30 Jahren wissen müssen. Es geht darum, Wissen nicht nur kognitiv zu verarbeiten, sondern auch zu bewerten und anzuwenden. Pure Wissensaneignung, wie sie in der „alten Schule“ angestrebt wurde, reicht nicht mehr aus.

Die Kinder lernen durch Erfahrung und Erleben und um Erfahrungen machen zu können, brauchen sie (Entscheidungs-)Freiheit. Das ist ein Kernpunkt der Montessori-Pädagogik. Eine Wahl zu haben und im Nachhinein auch seinen Lernerfolg bewerten zu können, ist extrem wichtig und trägt zur Motivation bei. Vielleicht kann ich zwar nicht immer entscheiden, ob ich etwas tun muss, aber wie, wo, wann und mit wem ich es tue, schon. Diese Freiheit geben wir den Kindern hier am Zentrum und begleiten sie in ihren Entscheidungen. Diese  Herangehensweise zielt auf die Erlangung der genannten Schlüsselqualifikationen ein, ohne dass sie explizit „gelehrt“ werden.

Die Schriften von Maria Montessori sind über hundert Jahre alt. Wie passt das mit Digitalisierung zusammen und wie setzen Sie es in Ihrem Schulalltag um?

Maria Montessori war ja auch Wissenschaftlerin und Technik war ihr nie unheimlich und somit hätte sie digitalen Fortschritt nie im Leben abgelehnt. Sie war aber eben auch Pädagogin, die entwicklungspsychologisch gedacht und beobachtet hat. Sie hat die Frage gestellt, was Kinder brauchen, um ihre Intelligenz aufzubauen und zu entwickeln.

Und in diesem Zusammenhang ist es so, dass die kleinen Kinder bis zum sechsten Lebensjahr sehr viel über die Motorik begreifen. „Begreifen“ im wahrsten Sinne des Wortes. Intelligenz baut sich von der Hand in den Kopf auf und durch die Wiederholung von Tätigkeiten. Im Grundschulalter sieht es dann schon etwas anders aus, denn da sind die Kinder dabei, ihr abstraktes Denken aufzubauen. Hier nutzen sie dann auch schon digitale Medien und Technik, sei es für kleinere Recherchen oder auch für erste Filmaufnahmen.

Und je größer und älter die Kinder werden, umso mehr brauchen sie die digitalen Medien. Es gibt heute kein Nachschlagewerk mehr, welches stets aktuell, schnell und quasi überall verfügbar ist. Digitale Medien unterstützen eben auch das individuelle Lernen. Wichtig ist, dass sich die Kinder auch den richtigen Umgang mit diesen Medien erarbeiten und in der Lage sind, digitale Medien bewerten zu können.

Berufsorientierung fand zu meiner Schulzeit mit einem dreiwöchigen Berufspraktikum in der neunten Klasse statt und das war es dann auch. Mehr gab es nicht. Wie sieht es hier und heute aus?

Wir nennen es mittlerweile nicht nur mehr Berufsorientierung sondern Berufs- und Zukunftsorientierung. Es geht uns darum, die Kinder auf ein Leben nach der Schule vorbereiten. Dazu gehört sicherlich auch kognitives Wissen aufzubauen, aber das ist eben bei weitem nicht alles. In themenübergreifenden Projekten übernehmen die Schüler immer mehr echte Verantwortung für und in der Gemeinschaft. Hierzu gehört es zum Beispiel Feedback zu geben, aber auch annehmen zu können, Geschehenes zu reflektieren und in hohem Maße um Selbstmanagement. Wie kann ich mich und meine Fähigkeiten einsetzen? Wie finde ich einen Konsens? Was mache ich, wenn ich anderer Meinung bin?

Je mehr sich eine Persönlichkeit ihrer selbst bewusst ist, umso besser kann sie sich einbringen und im Team arbeiten. Das ist wichtig, um später im Job zurechtzukommen.

Ab der siebten Klasse machen die Schüler bei uns jedes Jahr ein Praktikum. Mit dessen Hilfe wollen wir vor allem wieder erreichen, das kognitive Wissen mit dem praktischen Leben zu verbinden und den Erfahrungshorizont aus den engen Schulmauern heraus zu erweitern.

Unabhängig davon… wo ist der größte Reformbedarf? Warum hängt man so fest in dem Alten? Warum tun wir uns schwer, die Dinge zu ändern und sich „Neuem“ zuzuwenden?

Die Frage kann ich leider auch nicht so recht beantworten, aber ich kann Ihnen sagen, wie ich es wahrnehme. Wir haben ein Bildungssystem, was Menschen für die Erfordernisse der Industrialisierung heranbildet und das hat sich nicht geändert. Es gibt viele, viele Initiativen, die um eine Veränderung ringen. Aber deren Entscheidungsspielraum wird meines Erachtens immer wieder eingeschränkt. Ich glaube, Schulentwicklung findet zu sehr von oben her statt und dass dies so ist, hängt eben mit dem doch sehr hierarchischen System und vielleicht auch mit dem Beamtenstatus von Lehrern zusammen. Das passt einfach nicht mehr zu den Anforderungen, die wir heute an Kinder und Berufsanfänger haben.

Meiner Meinung nach sollten wir auch das dreigliedrige Schulsystem abschaffen und Kinder lange zusammen lernen lassen. Nur so kann Inklusion und einen breite Bildung für alle gelingen.

Darüber hinaus sollte sich der Stellenwert von Bildung in Deutschland ändern. In anderen Ländern wird schon durch Schulgebäude oder auch Bibliotheken deutlich, welch hohen Stellenwert Bildung hat. So sehen in Deutschland maximal Banken- und Unternehmenszentralen aus. Wertschätzung von Bildung wird vielerorts ganz anders gezeigt. Das ist schon auffällig und sollte für uns Anlass zum Nachdenken sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview wurde veröffentlicht im RKW Magazin 2/2019. Hier erhalten Sie den Artikel als pdf-Datei aus dem Magazin.

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